Eine Straßenbahn schaffte es über den Kanal

24 Beiwagen produzierte die Waggonfabrik Uerdingen von 1939 bis 1940 für den Kieler Verkehrsbetrieb, die Allgemeine Lokalbahn- und Kraftwerke-A.-G. (ALOKA), Betriebsverwaltung Kiel. Aus dieser Serie sind bis heute vier Wagen sowie ein Fahrzeugsegment vom Wagen 71 erhalten, das wir uns näher ansehen.

46 Jahre in Betrieb

Die Inbetriebnahme des Beiwagens 71 ist in dem ältesten vorhandenen Revisionsbuch mit dem 27.08.1939 dokumentiert. Ohne große Schäden überstand der Wagen den Zweiten Weltkrieg und wurde seit den 1950er Jahren technisch modernisiert (neue Radlager, Schienenbremse, Bremsleuchten, …). 1964 kam der Wagen – wie fast die ganze Serie – ins Werk der Düsseldorfer Waggonfabrik (DÜWAG) und erhielt einen Umbau zum schaffnerlosen Betrieb als Ein-Richtungs-Beiwagen mit modernen elektrischen Falttüren, Haltewunsch-Drücker und -Anzeige.

Nicht bis zum Schluss

Nach dem Umbau in Düsseldorf kam dieser Beiwagen ausschließlich hinter verschiedenen Gelenktriebwagen auf der Linie 4 zum Einsatz, zuletzt hinter Triebwagen 262. Ende März 1985 zerschlugen Randalierer während der Fahrt die Inneneinrichtung (Holzsitze/Innenverkleidung/Scheiben,…) , so dass die KVAG den Wagen bis zur Einstellung der Straßenbahn am 4. Mai 1985 außer Betrieb setzte und ihn in der großen Wagenhalle in Gaarden abstellte.

Rettung vor der (kompletten) Verschrottung

Am 21. Mai 1985 ist das Schicksal des Beiwagens besiegelt. Auf einem Tieflader wird er auf das ehemalige Betriebsgelände der Howaldtswerke-Deutsche Werft (HDW) in Dietrichdorf gebracht. Damit stand die Verschrottung unmittelbar bevor. Ein Starktstromelektriker der Kieler Stadtwerke und Freund der Straßenbahn, Dieter Boldt, nahm die Gelegenheit wahr, bei der Verschrottung ein Wagenende mit dem Schneidbrenner abzutrennen und zu bewahren. So kam ein Stück des Beiwagens von Dietrichsdorf in die Wik in einen idyllischen Hinterhof an der Holtenauer Straße. Hier lagerte zunächst das Wagenteil ein Jahrzehnt gut verpackt bis zu seiner Wiederauferstehung.

Hinterhof mit Straßenbahn

Seit Mitte der 1990er Jahre ging Boldt dann zusammen mit seinem Sohn Rüdiger an die Arbeit. Dieser war bei der KVAG im Betriebshof Gaarden in der Werkstatt angestellt und wurde im Laufe der Jahre ebenfalls ein Freund der Kieler Straßenbahn. In viel Fleißarbeit, mit Blech, Fenster und Inneneinrichtung ergänzten die Boldts den Wagen und stellten das nun auf drei Meter angewachsene Fahrzeugsegment auf einen Betonsockel. Ein nachgebauter Oberleitungsmast, ein originales Haltestellenschild (Knorrstraße) mit lokalem Bezug, sowie ein kleines Warte-/Trafohäuschen ergänzten das Ensemble. So blieb die Erinnerung an die Kieler Straßenbahn, nah an ihrem letzten Einsatzort in der Wik an der Holtenauer Straße, bis über die Jahrtausendwende präsent.

Straßenbahn fährt über den Nord-Ostsee-Kanal

Die idyllische Aufstellung im Hinterhof konnte aber keine Dauerlösung bleiben. Zum einen hatte der Grundstückseigentümer verschiedene Pläne für eine zukünftige Nutzung, zum anderen war es für Vater Boldt mit zunehmendem Alter immer schwieriger, sich nachhaltig um den Wagen zu kümmern. So entschied sich die Familie im März 2015 den Wagen nach Dorf Pries zu holen. Damit stand der ersten Fahrt einer Kieler Straßenbahn – wenn auch nur in Teilen – über den Nord-Ostsee-Kanal nichts mehr im Wege.

Straßenbahn-Denkmal in Dorf Pries

Durch die stetige Pflege am aktuellen Standort ist der nachhaltige Erhalt gesichert. Im Jahr 2020 erhielt der Wagen Neulack, natürlich in den originalen Kieler Farben: Wagenkasten in beige, kardinalrote Zierstreifen und ein graues Dach.
Doch das Beste ist: Die bereits erwachsenen Enkelkinder haben ebenfalls Freude an der Kieler Straßenbahn und helfen mit, den Wagen zu erhalten und die Technik zu optimieren. So stattete Enkel Michel das aus dem Gelenktriebwagen mit Nummer 261 stammende und im Beiwagen installierte Fahrpult im September 2020 mit allen realisierbaren Funktionen aus.

Fahrpult mit Funktion

Über die Taster für das Hauptschütz wird die ganze Anlage ein-/ausgeschaltet. Die Nadel des Voltmeters schnellt in die Höhe und zeigt eine Versorgungs-Spannung von 32 Volt an und die grüne Kontrolllampe (Abfahrt) leuchtet. Die vorderen Scheinwerfer (rot/weiß) lassen sich über den Kippschalter (vorwärts/rückwärts) schalten. Über einen schwarzen Drehschalter bzw. einen roten Zugschalter mit Kontrollleuchte werden die außen montierten Blinker angesprochen, wobei das Klacken des Blinkgeber-Relais zu hören ist. Der Sprechfunk kann ebenso eingeschaltet werden, was eine rote Kontrollleuchte bestätigt. Beim Rufen und Sprechen leuchtet eine weiße Kontrolllampe.
Auch der Haltewunsch wird signalisiert: Sowohl dem Fahrer per Signal im Fahrpult (gelbe Lampe), als auch den Fahrgästen über die unter dem Wagendach montierte „Wagen hält“-Anzeige und dem dreieckigen von innen beleuchteten Haltewunschkasten. Dies ist so lange der Fall, bis der Fahrer den Haltewunsch über den Taster „Löschen“ zurücksetzt – eben so, wie es einst im Betrieb der Bahn der Fall war. Bleibt nur noch die volle Funktionsfähigkeit des installierten Entwerters zu erwähnen, die der Opa schon herstellte. Also, Fahrkarte lösen und Abfahrt!
Gastbeitrag aus dem „Fahrplan“ der KVG Kieler Verkehrsgesellschaft mbH von André Hellmuth
TITELBILD: Noch am ersten Standort, in einem grünen Hinterhof an der Holtenauer Straße, stand das Fahrzeugsegment an der passenden Haltestelle „Knorrstraße“, eingerahmt von zahlreichen Schildern an der dahinterliegenden Bretterwand, die zur Kieler Straßenbahn gehörten.
AFH. 2013-06-07
Verkaufsinformation Kieler Wagen
Anfang 1940 machte die Waggonfabrik Uerdingen A. G. in einer Verkaufsinformation Werbung mit dem Kieler Wagen.
Slg. Paul-Heinz PRASUHN. Archiv Axel REUTHER. 1940
Familie Boldt
Drei Generationen erfreuen sich an dem frisch lackiertem Wagensegment im Jahr 2020, das Waggonbauer vor über 80 Jahren in Uerdingen erschufen. Die Familie Boldt vlnr: Rüdiger, Dieter, Amelie und Michel.
Rüdiger BOLDT. 2020-10-04
Technik
Robuste Technik der 1960er Jahre aus dem Kieler Gelenktriebwagen der DÜWAG mit Nummer 261, die in dem Beiwagen funktionstüchtig installiert ist.
AFH. 2013-06-07