Lehrwagen 350, das fahrende Klassenzimmer

Mit der Betriebsnummer 93 begannen Anfang des 20. Jahrhunderts die Einsätze als Personentriebwagen. Der von der Waggonfabrik Aktiengesellschaft vorm. P. Herbrand & Co. gelieferte Wagen gehörte zur zweiten Generation von Motorwagen in Kiel (Nr. 80 – 104). Nach diversen Umbauten erhielt er 1930 im Rahmen einer generellen Umnummerierung die Wagennummer 130, mit der er bis Anfang der 1950er Jahre unterwegs war.

Von Oktober 1952 bis März 1953 baute die Werkstatt das Fahrzeug zum Fahrschulwagen um. Neben speziellen Einrichtungen für den Fahrlehrer bekam der Innenraum eine Ausstattung wie in einem Klassenzimmer mit (Schul-)Bänken und Tischen mit fest montierten Aschenbechern. Eine Wandtafel durfte ebenso wenig fehlen. Und da die Betriebsleitung befürchtete, dass die (Fahr-)Schüler durch den Blick aus dem fahrenden Klassenzimmer abgelenkt würden, ließ sie die Scheiben zu 2/3 satinieren (Milchglas). Im Februar 1953 erhielt das Fahrzeug kurz vor der Fertigstellung einen Neulack in Elfenbein mit kardinalroten Zierstreifen und rückte am 4. März des Jahres zur ersten Probefahrt aus. Über ein Vierteljahrhundert diente es regelmäßig zur Ausbildung von Fahrpersonal.

Im März 1960 erhielt der Wagen den für Arbeitswagen vorgesehenen orangefarbenen Anstrich. In den siebziger Jahren gingen die Einsätze mangels Bedarf nach Einstellung mehrerer Linien im vorausgegangenen Jahrzehnt zurück. Eine letzte Hauptuntersuchung bekam der Wagen im Winter 1975/76 mit Abnahmedatum 23. Februar 1976. Ende der 1970er Jahre fanden letztmalig Ausbildungsfahrten mit diesem Fahrzeug statt. Da zu diesem Zeitpunkt bereits fest stand, dass die Kieler Straßenbahn Mitte der 1980er Jahre durch Busse ersetzt würde, suchte der Betrieb nach Abnehmern.

1981 gelangte das Fahrzeug nach Wehmingen zum Verein Deutsches Straßenbahn Museum Hannover e. V. (DSM). Nach dessen Konkurs wird der Wagen heute vom Verein Hannoversches Straßenbahn-Museum e. V. (HSM) in einer Halle ausgestellt. Hier steht er prominent positioniert auf einem eingepflasterten 1.100 mm-Gleis. Die Besucher erreichen den Wagen direkt beim Eintreten. Nach der äußerlichen Aufarbeitung durch den Verein zeigt sich der Lehrwagen in einem senfgelben Farbton, der dem Vernehmen nach bei der Restaurierung in unteren Farbschichten zu Tage trat! Innen hat der Schellack seine Altersspuren hinterlassen. Auch wenn einige Hölzer lose sind, der Unterricht kann jederzeit beginnen.